Freitag, 25. Juni 2010
Gemütszustände googlen

Anal Cunt
Everyone Should Be Killed
Earache Records (1994)

Es soll Menschen geben, die sich langweilige Stunden zuweilen damit vertreiben, indem sie ihren momentanen Gemütszustand als Suchbegriff bei Google eingeben. Ein Zeichen sozialer Vereinsamung? Vielleicht. Dennoch allemal besser, als dergleichen in sogenannten 'Netzwerken' wie Facebook zu praktizieren, wo damit dann sogenannten 'Freunden' mit Statements wie "Ich weiss nicht mehr weiter" oder "Ach, ist das alles schrecklich" oder, noch schlimmer, "Freu!" auf die Nerven gegangen wird. Aber auch das scheint im Zeitalter zunehmender sozialer Vereinsamung weitestgehend akzeptiert, auch wenn Zeitgenossen mit Stil, Würde, Bildung und Anstand dergleichen natürlich niemals tun würden.

Richtig problematisch würde die Sache allerdings dann werden, wenn dabei der Titel einer der seltsamsten und eigenwilligsten (viele würden vermutlich sagen: schlechtesten, andere, weitaus weniger zahlreiche, würden sagen: besten) CDs aller Zeiten als Ausdruck der momentanen Gemütsverfassung gewählt werden würde. 'Everyone should be killed' ist ein wohltuend eindeutiges, zugleich sicherlich auch etwas misanthropes Statement, welches Titel des ersten 'richtigen' Studioalbums der us-amerikanischen Hard- oder Noisecore Band Anal Cunt ist (Earache Records, 1994), eine CD, die 1995 oder 1996, so genau weiss ich das nicht mehr, auf verschlungenen, gleichwohl glücklichen Wegen in meine Discothek gelangte.


'Everyone should be killed' enthält auf 58 Minuten Spielzeit sagenhafte 58 Titel, die so klangvolle Namen tragen wie 'Some Songs', 'Some More Songs', 'Even More Songs', 'Music Sucks', 'Shut Up Mike' oder 'Our Band Is Wicked Sick (We Have the Flu)' tragen. Mein persönlicher Favoriten ist das kritisch-selbstreflexive '"I'm Not Allowed to Like A.C. Any More Since They Signed to Earache"'. Die Musik besteht aus Lärm und Geschrei, ist grauenhaft aufgenommen und am Stück eigentlich nicht konsumierbar. Aber in ihrer Konsequenz und ihrem bockigen Nihilismus ist diese CD schlicht grandios. Sie ist ein todsicheres Mittel um unliebsamen Besuch loszuwerden (falls sie dabei wider erwarten einmal doch versagen sollte, hilft immer noch der Griff nach 'Locust Abortion Technician' von den Butthole Surfers, die ich hier bei Gelegenheit auch einmal vorstellen werde). Sie hilft in ihrer Sturheit über trübe Stunden hinweg und ist in ihrer schäbigen Aufmachung eine Zierde jeder CD-Sammlung. Man muss sie streng genommen nicht einmal hören, haben reicht völlig. Und sicher ist: Würde vorne auf der CD 'John Zorn' stehen, das Feuilleton würde sich überschlagen vor Lob.

Mehr gibt es über dieses epochale Meisterwerk nicht zu sagen. Darum: Kaufen, lachen und den Besuch schockieren.

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Freitag, 19. Juni 2009
Michael Buble: Das kanadische Überraschungsei
Eigenartiges trug sich zu, als ich letzte Nacht noch schnell einige Stücke für ein Doppelkonzert am kommenden Wochenende 'herausgehört', soll heißen: schlampig transkribiert habe.

Als mein Blick auf das noch ausstehende Stück 'Everything' fiel, dachte ich noch nichts Böses; als ich den Titel anspielte, war das Erschrecken schnell und groß. Der unsägliche Bublé, der, der mit seichtester Unterhaltungsmusik einen unglaublichen Reibach macht, der seinen Durchbruch als - sic! - Sänger auf einer Hochzeit hatte, den man immer und überall spielen kann und niemandem tut's weh.

Der allerdings, das musste ich immer zugeben, Seichtheit zuweilen in eine durchaus erstaunliche musikalische Komplexität packen kann, zumindest gemessen am Maßstab kommerzieller Unterhaltungsmusik, der hinterhältige Rhythmen und rasante Unisono-Läufe dorthin streut, wo man sie am wenigsten vermutet und dessen Aufnahmen, darin ähnelt er dem großartigen Bert Kämpfert (der natürlich in einer ganz anderen Liga spielt bzw. gespielt hat bzw. hat spielen lassen), verdammt gut klingen.

Es dauert ein Weilchen, so eine Bublé-Nummer herauszuhören, und der Lohn ist gering, denn gespielt wird sie dann mit irgend einer Gala-Band, irgend wo, wo es garantiert keinen interessiert, was man da eigentlich genau spielt.

Was dann geschah, war seltsam. Denn nach wenigen Takten lösten sich meine angespannten Schultern (ich versuchte, den Bass umgehängt, mit der rechten Hand eine grobe Struktur auf das Notenpapier zu kritzeln), ich legte den Stift beiseite, lehnte mich zurück und, ja, ich genoss. Wirklich und aufrichtig. Zwar war der Text kitschig und die Modulation vorhersehbar, wenn auch raffiniert (von D nach Amaj9 - in Wahrheit wird das Ganze nur einen Ganzton nach oben verschoben, das hört sich aber viel komplexer an), aber das Ganze war so artig gemacht, klang so lieb und aufrichtig, dass ich, zumindest für einen Moment, den Herrn Bublé einfach nur gern haben musste. Erstaunlich.

Die gute Laune normalisierte sich wieder, denn an der Nummer habe ich noch ein ganzes Weilchen gesessen. Und am Wochenende wird sie wieder niemandem auffallen. Wie immer.

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