Sonntag, 27. September 2009
Die Angst vor der Selbstauflösung

Antichrist

Dänemark, Deutschland, Frankreich, Schweden, Italien, Polen 2009
R: Lars von Trier
104 Min.

Das Gezeter war absehbar und vermutlich auch vom Regisseur intendiert. Es ist eine traurige Folge der kulturindustriellen Vermarktung, dass die wenigen sehr guten und ausgezeichneten Filme, die nicht den Konventionen des kommerziellen Mainstream-Kinos folgen, mit drastischen Bildern schockieren müssen, weil sie sonst vom Gros des Publikums gar nicht erst wahrgenommen werden. Das war bei Gaspar Noés großartigem Irreversible so und das ist auch bei Lars von Triers nicht minder großartigen Antichrist der Fall. Dabei bräuchte von Trier diese (wenigen) Schockbilder - ich fasse kurz zusammen: Genitalverstümmelung, Beinverletzung, abgestorbene Tierföten - überhaupt nicht; Antichrist wäre auch ohne Blut ein phantastischer Film.

Dass das so ist, ist vor allem der schauspielerischen Leistung der beiden Darsteller - Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe - geschuldet. Mit einer unwahrscheinlichen Intensität und dem Mut zur Selbstentblößung (und damit ist nicht allein Nacktheit gemeint) spielen sie ein Paar, welches den Verlust des gemeinsamen Kindes in einer abgeschiedenen Waldhütte in Selbsttherapie aufzuarbeiten sucht. Sie ist hochgradig depressiv und psychotisch, er ist Psychotherapeut - dass das nicht gutgehen kann, ist so sicher, wie das Amen in der Kirche, die auch im Wald allgegenwärtig ist. Der Wald als Gegenmetapher zur Sicherheit der Zivilisation, als Ort der Ängste und des Unbewussten, das ist allerdings nicht nur Teil einer erzkatholischen Ikonographie (wie die Protagonistin selber anmerkt: Die Natur ist Satans Kirche), sondern ein Element, welches sich wie ein roter Faden durch die abendländische Literatur des 20. Jahrhunderts zieht (Homo Faber, Masse und Macht etc.). Ebenso abendländisch ist die spezifisch männliche Angst vor der weiblichen Sexualität, die von Trier in allerdings drastische Bilder zu fassen vermag.

Dass diese Mélange aus Katholizismus und tiefenpsychologischen Clichés zu keinem Zeitpunkt auch nur annährend lästig wird, hängt damit zusammen, dass die Ängste, die von Trier inszeniert und zelebriert, Ängste sind, die eng mit der menschlichen Existenz an sich zusammenhängen: Angst vor Selbstverlust, Angst vor Selbstauflösung, Angst vor Verletzung und immer wieder Schuld, Schuld, Schuld. Diese sind zuvorderst Grundkonstanten der conditio humana und nicht an eine spezifisch religiöse Sichtweise gebunden. Aus diesem Grund wirkt Antichrist so heftig, und ich wage zu behaupten: bei jedem, der den Mut mitbringt, sich auf ihn einzulassen.

Was weitaus schwerer in Worte zu fassen ist, das ist die unheimliche Schönheit der Bilder, die Lars von Trier inszeniert und die den Betrachter viel unmittelbarer und nachhaltiger treffen, als die wenigen Schockszenen, auf die man im Grunde ja auch vorbereitet ist. Natürlich muss sich von Trier angesichts dieser Bilder fragen lassen, ob er Frauen hasst (ja, tut er) ob er Angst vor der Hölle hat (hat er bestimmt) und ob es ihm in den letzten Jahren möglicherweise alles andere als gut ging (ging es ihm nicht). Und natürlich ist eine solche Form der Selbsttherapie - von Trier litt an einer schweren Depression - fragwürdig und nicht alles, was von Trier dem Zuschauer zeigt, will dieser auch wirklich sehen respektive wissen.

Aber wenn man sehen will, wie Kino sein kann, wenn sich jemand der Sache annimmt, der es richtig kann, dann sollte man sich Antichrist nicht entgehen lassen.