Dienstag, 23. Juni 2009
Es muss im Leben mehr als alles geben
Higgelti Piggelti Pop!

Vierzig Jahre Higgelti Piggelti Pop! in deutscher Sprache

Es gibt Kinderbücher, es gibt Bücher für Kinder, es gibt Kinderbücher für Erwachsene und es gibt Bücher für Kinder, die auch für Erwachsene geschrieben wurden (damit letztere beim Vorlesen nicht ganz so schnell einschlafen). Und es gibt Higgelti Piggelti Pop! oder Es muss im Leben mehr als alles geben, das opus magnum Maurice Sendaks, das vielleicht schönste Buch für Kinder und Erwachsene, das es überhaupt gibt.
"Einst hatte Jennie alles. Sie schlief auf einem runden Kissen im oberen und auf einem viereckigen Kissen im unteren Stockwerk. Sie hatte einen eigenen Kamm, eine Bürste, zwei verschiedene Pillenfläschchen, Augentropfen, Ohrentropfen, ein Thermometer und einen roten Wollpullover für kaltes Wetter. Sie hatte zwei Fenster zum Hinausschauen und zwei Schüsseln für ihr Futter. Und sie hatte einen Herrn, der sie liebte."
Higgelti Piggelti Pop! handelt von Jennie, einem kleinen, britisch anmutenden Hund mit wuscheligem Fell, großem Appetit und einem höchst unzufriedenem Naturell. Jennie, die alles hat, und doch nicht glücklich ist, packt eines Tages alles, was sie besitzt, in eine große Ledertasche mit goldener Schnalle verlässt zu mitternächtlicher Stunde ihr trautes Heim. Ihre abenteuerliche Reise endet nach vielen Abenteuern (Zappelmagen! Löwenrachen!) und schicksalschweren Begegnungen mit Milchmännern, Stubenmädchen, schweinernen Talentscouts, Babies, die nicht essen wollen, Löwen, die Babies und Kindermädchen zum Fressen gern haben und fülligen Damen in Weiß schließlich auf Schloß Anderswo, als Hauptdarstellerin in Frau Hules Welttheater. Reich an Erfahrung ist sie nun und: ein Star. Das mutet surreal an, doch keine Sorge: In Jennies Welt wirkt das alles ganz normal. Und weil ein wenig Jennie scheinbar in jedem von uns steckt, wird man geradezu neidisch ob des Entwicklungsgangs, den die Protagonistin nimmt.

Damit hätte die Geschichte durchaus das Zeug für ein moralinsaures pädagogisches Lehrstück, wäre da nicht der unglaubliche Humor Sendaks, der seine Protagonisten und ihre Existenz (die zugleich unsere Existenz ist) mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit im Skurrilen und Surrealen verankert, die in der amerikanischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in dieser Vehemenz eigentlich nur noch bei Thomas Pynchon zu finden ist. Und wahrscheinlich ist gerade dies der Schlüssel dazu, warum dieses Buch über alle Altersgrenzen hinaus so begeistert: Kinder wundern sich nicht über ein Schloß Anderswo, von dem keiner der Beteiligten weiss, wo es überhaupt genau liegt (nur der Löwe kennt den Weg); sie staunen vielmehr darüber. Erwachsene hingegen staunen darüber, dass sie sich nicht wundern. Kinder spüren einen leichten Grusel angesichts des großen weißen Hauses am Rande der Stadt; Erwachsene auch, nicht, weil sie das weiße Haus als psychiatrische Klinik deuten (was in jedem anderen Kontext nahe läge), sondern weil sie sich auf eine traumartige Weise daran erinnern werden, wie es war, als einem beim Gedanken bei weißen Häusern an Stadträndern noch ein leichter Schauder durchfuhr.

Durch gerade diese Traumartigkeit ist dieses Buch auf eine geradezu unheimliche Weise unmittelbar und bedarf eigentlich keiner Deutungen und Interpretationen, um verstanden zu werden - obgleich gerade die Traumnähe zu tiefenpsychologischen Deutungen einladen würde. Unweigerlich würden diese aber diesen kleinen, in sich schlüssigen Kosmos zerstören, der keine Weisheiten parat hält, sondern zum Staunen und Lachen einlädt. Insofern liest sich Higgelti Piggelti Pop! besser mit Kinderaugen - aber ganz gleich, wie man dieses Buch liest: Wer Jennie einmal kennengelernt hat, vergisst sie nicht wieder.

Vierzig Jahre ist es nun her, dass dieses großartigste aller Kinderbücher in deutscher Sprache erschienen ist. In amerikanischer Sprache erschien es bereits zwei Jahre zuvor, also 1967, unter dem Titel Higglety Pigglety Pop! or There Must Be More to Life und bereits die feine Doppeldeutigkeit des Titels zeigt, vor welche Herausforderungen sich Hildegard Krahé gestellt sah, die die großartige deutsche Übersetzung aus dem Amerikanischen besorgt hat. Denn auch darin ist dieses Buch herausragend: Es wartet mit einer Übersetzung auf, die dem Original in Witz, Ironie und subtilem Sprachgebrauch in nichts nachsteht.

Völlig unerklärlich sind die Schwierigkeiten, vor die man sich in den letzten Jahren gestellt sah, wenn man Higgelti Piggelti Pop! käuflich erwerben wollte. Eine Schande für den Diogenes-Verlag, dass dieses Buch - zeitweise über Jahre - nicht erhältlich war, auch momentan ist das Buch beim Verlag leider nur vorbestellbar oder antiquarisch erhältlich.

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